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Der Bildungs-Tsunami

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Sind zukünftig die Elite Universitäten wie Berkeley, Stanford und Harvard für jeden Bildungswilligen weltweit erreichbar? Ist die Welle schon in der Schweiz angekommen?

Die Harvard Universität von Boston im US-Bundesstaat Massachusetts ist eine akademische Festung: Nebst horrenden Studiengebühren sorgen rigide Zulassungsbedingungen für einen seit Jahrhunderten unangefochtenen Elite-Status. Wer einen exklusiven Harvard-Abschluss vorweisen kann, dem stehen sprichwörtlich alle Türen offen. Doch das Fundament der Wehrmauer bröckelt: Das Internet ist drauf und dran, die höhere Bildung zu revolutionieren.

„MOOCs“ nennt sich das neue Phänomen; das Akronym steht für „Massive Open Online Courses“. Die angesehensten Hochschulen der Welt machen mit, allen voran die amerikanischen: Professoren von Harvard, Berkeley, Stanford oder dem MIT stellen ihre Vorlesungen und Seminare ins Netz – und rund um den Globus können wissenshungrige die Kurse kostenlos verfolgen, ihre Fortschritte mittels ausgeklügelter Tests bemessen und oft sogar gegen bescheidene Gebühren ein Abschlusszertifikat erwerben, wenn auch bislang keine Hochschul-Credits.

Bildung für die Massen

Der Erfolg ist beeindruckend: Am ersten Kurs der Online-Hochschule Udacity von Stanford-Professor Sebastian Thrun über künstliche Intelligenz nahmen insgesamt 160‘000 Interessierte aus 190 Ländern teil. 23‘000 von ihnen schafften die Abschlussprüfung. Das war im Herbst 2011. Heute kommen die drei führenden Portale Udacity, Coursera und edX auf mehrere Millionen Nutzer. Sie belegen Hunderte fürs Web optimierte Kurse von Dutzenden von Bildungsinstituten: Von der Einführung in elektrische Schaltkreise über griechische Helden und Antihelden bis zu abstrakter Algebra ist für jeden etwas dabei.
Viele der Kursteilnehmer kommen aus Weltregionen, in denen die breite Bevölkerung praktisch keinen Zugang zur höheren Bildung hat. Da MOOCs meistens nur einige Wochen dauern, standortunabhängig besucht werden können und eine flexible Einteilung des Studiums ermöglichen, sprechen sie auch Personen an, die familiär oder beruflich eingespannt oder nicht mobil sind, zum Beispiel alleinerziehende mit Kleinkindern oder Frauen, die nach längerer Mutterschaftspause den beruflichen Wiedereinstieg wagen. Viele Experten stimmen Anant Agarwal, MIT-Professor und Präsident von edX, daher zu, wenn er sagt, dass MOOCs „den grössten Umbruch im Bildungswesen seit der Erfindung des Buchdrucks“ einläuten.

Ein Tsunami baut sich auf

Der MOOC-Trend ist mittlerweile auch in Europa angekommen. Vorreiterin in der Schweiz ist die Eidgenössische Technische Hochschule Lausanne (EPFL). Sie reihte sich letztes Jahr in die Riege der Partner-Universitäten von Coursera und edX ein. Der erste E-Learning-Kurs befasste sich mit der Programmiersprache Scala. 53‘000 Studenten schrieben sich dafür ein – fünf Mal mehr als die Gesamtzahl der EPFL-Studierenden. Neu im Angebot sind Online-Kurse in Wissenschafts-Informatik, Java-Programmierung oder Signalverarbeitung. Und im Herbst sollen mindestens zehn weitere Kurse dazukommen. Entsprechend gross sind die Erwartungen in Lausanne: EPFL-Präsident Patrick Aebischer beschreibt die neue Studienform als „Tsunami“, der durch die Bildungslandschaft fegen werde – und dem keiner entgehen könne.
Auf der Welle will auch die Uni Genf reiten: Ab Oktober dieses Jahres kann jedermann via Coursera über den Reformator Calvin lernen oder sich einen interdisziplinären Überblick über die globale Gesundheit verschaffen. Ebenfalls angekündigt, jedoch bislang ohne Datum, ist ein Kurs über die Vielfalt der Exoplaneten sowie einer über das Management von internationalen Organisationen.
In den MOOC-Startlöchern steht auch die ETH Zürich. Dort hat man sich allerdings „nach intensiver Auseinandersetzung“ dafür entschieden, nicht dem allgemeinen MOOC-Trend zu folgen, sondern ähnliche Angebote zu lancieren, die sich „in erster Linie an die Studierenden der ETH Zürich richten – und erst in zweiter Linie an Aussenstehende“, wie Konrad Osterwalder, Leiter der Lehrentwicklung und -technologie der ETH Zürich erklärt. Die Hochschule werde in den nächsten zwei Jahren dieses Format erproben, um zu entscheiden, ob und in welchem Bereich ein Einsatz „einen echten Mehrwert“ schaffe. Konkret werde man auf dieses Herbstsemester hin – also per September – die ersten MOOC-ähnlichen Kurse umgesetzt haben, wobei zunächst die Grundlagenfächer im Fokus stünden. Die ETH werde die Kurse über die eigene Webseite anbieten, die Zusammenarbeit „mit einer Plattform wie edX“ sei in Diskussion, aber nicht vordringlich.

Das Klassenzimmer der Zukunft

Wieso aber setzen die Hochschulen reihum auf Gratis-MOOCs, wo diese doch ihre eigenen Lehrinhalte kanibalisieren und dadurch ihre Daseinsberechtigung infrage stellen? Schliesslich wird unter Experten bereits diskutiert, ob es die grossen Uni-Vorlesungssäle schon bald nicht mehr brauchen wird. „MOOCs werden kaum die Präsenzveranstaltungen ablösen“, beschwichtigt Osterwalder, „aber sie werden für ein breiteres Angebot in der tertiären Bildung sorgen“. Schliesslich würden MOOCs interessante Möglichkeiten eröffnen: „Durch das häufige Überprüfen des Lerninhalts erhalten Studierende eine kontinuierliche Rückmeldung über ihren Leistungsstand“, so Osterwalder. Durch die Auslagerung von Lehrbuchwissen in webbasierte Kursteile könne zudem mehr Präsenzzeit für interaktiveren Unterricht und persönlicheren Austausch mit den Dozenten eingesetzt werden. Im Fachjargon spricht man vom „umgedrehten Klassenzimmer“: Statt der Übungen besteht die Hausarbeit im MOOC-Modell aus dem Vorlesungs-Video, während in der klassischen Vorlesungszeit die zum Kurs gehörigen Übungen besprochen werden.
„Letztlich können webbasierte Angebote wie MOOCs auch dazu dienen, Lücken im Vorwissen zu schliessen und so trotz grossen Wahlmöglichkeiten im Studium eine hohe Kohärenz zu gewährleisten“, fügt Osterwalder an. Online-Kurse könnten künftig also jene Module ersetzen oder zumindest ergänzen, in denen die Grundlagen eines Fachs gelehrt werden – etwa die Statistik für Volkswirtschaftler, die Logik für Philosophen oder die Phonetik für Sprachwissenschaftler. Und für solche Kurse dürfte es in Zukunft auch möglich sein, Uni-Credits zu erlangen, sofern man an der entsprechenden Hochschule immatrikuliert ist.

Kritik am System

Abgesehen von den drei oben erwähnten Universitäten, scheinen die Verantwortlichen der Schweizer Hochschullandschaft skeptischer gegenüber MOOCs eingestellt zu sein. „Kritisiert wird einerseits die Dominanz der amerikanischen Elite-Universitäten, die den Trend lanciert haben“, sagt Anita Holdener, E-Learning Koordinatorin der Uni Zürich. Andererseits werde das pädagogische Konzept der Angebote bemängelt, da oftmals sehr einseitig mit Videoinstruktionen und Multiple-Choice-Tests gearbeitet werde: Insbesondere könnten Onlinekurse nicht die Persönlichkeitsbildung einer Hochschule sowie die Erziehung zum kritischen Denken ersetzen. „Doch in diesem Punkt liegen die Kritiker falsch“, sagt Holdener. „Es ist nicht eine Frage der Umgebung oder der Technik, ob kritisches Denken gefördert wird, sondern des Lehrinhalts und des didaktischen Designs.“ Nicht selten setzten sich Studierenden in Online-Lerngruppen oder in Foren kritischer mit den Lehrinhalten auseinander, als in einer Vorlesung, wo die Studierenden „passiv in den Bänken sitzen“.
„In fünf Jahren“, prophezeit Holdener, „werden alle grossen Schweizer Universitäten ein MOOC-Angebot haben“. Natürlich seien gute Online-Lehrangebote nicht gratis zu haben, so die E-Learning-Expertin. Wenn man aber bedenke, dass die meisten Hochschulen ja schon heute ein reichhaltiges Programm an öffentlichen Veranstaltungen auf der Agenda haben, „so könnte man sich fragen, ob man nicht einen Teil davon als MOOC anbieten möchte“. Schliesslich könnte man damit nicht nur ein regionales, sondern ein internationales Publikum ansprechen – und so einen wichtigen Beitrag weltweiten Bildungsvielfalt leisten.

Mehr als ein Lerntool

MOOCs (Massive Open Online Courses) sind nicht einfach eine Neuauflage des schon länger bekannten E-Learnings, bei dem Dozenten ihren Studenten Vorlesungen als Podcast inklusive den dazugehörigen Folien auf dem Internet verfügbar machen. Die Kurse stehen allen offen – und sind zudem speziell fürs Web konzipiert. Oft arbeiten die Professoren mit Videos, in denen sie Interessierten den Lerninhalt näherbringen – sowie mit Multiple-Choice-Tests. Weitere Unterstützung finden die Studenten im Austausch untereinander via Online-Foren oder direkt beim Dozenten via Mail-Kontakt.



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